Linda war ein lieber, guter Hund. Denn genau das hatte Herr
Sörensen unzählige Male zu ihr gesagt. Das musste es sein, was er sagte. Da war
so etwas in seiner Stimme und seine Hände glitten dabei so über Lindas Kopf,
dass sie ihre schwarzen dreieckigen Äuglein schließen musste vor Glück. Linda
hatte das richtig empfunden: Herr Sörensen sagte genau das zu Linda oft.
Er hatte ein Geschäft für nicht ganz billige Möbel, Stoffe,
Lampen und was man sonst so zum Wohnen braucht. Herr Sörensen hatte eine Frau
gehabt, das war vor Lindas Zeit gewesen und ist nicht wichtig für unsere
Geschichte. Jetzt leben sie zu dritt in der großen Wohnung über dem Geschäft:
Sörensen Senior, sein erwachsener Sohn und Linda, die den ganzen Tag auch im
Geschäft war. Wenn ein Kunde kam, erschien Linda still und fröhlich und legte
ihm ein dickes Tauende vor die Füße. Dann gab es immer zwei Möglichkeiten:
Entweder der Kunde ergriff das Ende und Linda zog ihn am anderen Ende unaufhaltsam
durch den Laden, bis der lachend aufgab und losließ. Linda, sagten die Kunden,
die das Spiel mit ihr spielten, Linda, du bist mir zu stark. Oder aber Lindas
Aufforderung wurde einfach übersehen. Manche verstanden Linda eben nicht oder
taten so oder wollten nicht verstehen. Auch gut. Dann trollte sich die
sandfarbene Hündin mit der schönen schwarzen Zeichnung am Kopf und wartete auf
bessere Kundschaft.
Zwischendurch spielte Sörensen Junior mit Linda im Park am
Ende der Straße und an den Wochenenden fuhren sie immer woanders hin. Alle drei
wanderten gern. Na ja: Die beiden Sörensen wanderten und Linda tobte selig um
sie herum. Während der Woche wurde Linda manchmal von einer Gruppe kleiner
Mädchen und Jungen abgeholt. Dann nahm Herr Sörensen ihr das Halsband ab und
legte ihr ein Geschirr an, wie es die Schlittenhunde tragen. Linda war dann
immer schon mächtig aufgeregt, denn die Kinder rannten mit ihr zu einem kleinen
Platz, der asphaltiert war, aber für den Autoverkehr gesperrt. Die Skateboards
klapperten und schnurrten und die Kinder ließen sich von Linda ziehen. Fassten
in den Lederbügel am Rückenteil ihres Geschirrs und ab ging die Post, jeder
einmal um die ganze Anlage, bis die Kinder nach Hause mussten, Linda umarmten
und ´bis zum nächstem Mal` riefen und ´Danke Linda` und `du warst wieder echt
super` und `tschüss, Herr Sörensen` - denn der war nach Ladenschluss
erschienen, um Linda abzuholen.
"Na,“ sagte er, „Linda, du wilde Hummel, hast du dich
gut amüsiert?"
Und Linda hechelte zu ihm hoch: "Ja, ja, ja, Linda hat
es gut gehabt."
An irgendeinem Tag hatte es dann angefangen. Eine streng
riechende Dame hatte auf Linda gezeigt und etwas gesagt, was Herrn Sörensen
Senior ein rotes Gesicht gemacht hatte. Er sprach lauter mit der Dame als
gewöhnlich und sie rauschte hinaus, ließ nur ihre Parfümwolke zurück, für Linda
noch lange. Sörensen Senior streichelte Linda, aber ganz bei der Sache war er
nicht.
"Hast du das gehört", sagte er zu seinem Sohn, der
gerade aus dem Büro kam. "Linda ist ein Kampfhund!"
Und dann sagte er noch einiges über die Dame, was Linda
nicht verstand. Und dann war ohnehin Ladenschluss und die drei gingen in die
Kneipe gegenüber; Sörensens zischten ein Bier und der Kampfhund Linda bekam,
wie immer, eine Bockwurst.
Von jetzt an wurde es immer ungemütlicher. Bisher hatte sich
kein Mensch etwas dabei gedacht, dass Linda ein Bullterrier war, aber
plötzlich waren die Zeitungen voll von greulichen Geschichten über Hunde, die
Menschen gebissen hatten und immer sollten es Hunde wie Linda gewesen sein.
Oder so ähnliche Hunde. Irgendjemand hatte dann die Sache mit den Kampfhunden
aufgebracht. Kataloge wurden aufgestellt, welche Rassen denn nun am
gefährlichsten seien und Lindas Rasse stand immer ganz oben auf den Listen. Wenn die Sörensens
versuchten, mit den aufgeregten Leuten zu reden, war das meist nicht mehr
möglich. Niemand wollte sich davon überzeugen lassen, dass Linda keiner Fliege
etwas zu leide tat. Keiner - bis auf ein paar alte Freunde - wollte sie mehr
streicheln, die Eltern verboten ihren Kindern das Skateboardfahren mit Linda.
Es war wie eine Krankheit, die sich immer mehr ausbreitete: Immer neue
Greuelgeschichten standen täglich in den Zeitungen, um die sich die Leute
rissen: Je mehr Kampfhundlügen, desto mehr von den Schmuddelblättern wurden
verkauft und desto ängstlicher wurden die Menschen auf den Straßen.
Die Sörensen konnten nicht alle Kunden nach Hause schicken,
die sich plötzlich vor Linda fürchteten und wenn sie Linda im Büro
einschlossen, fing sie an zu weinen und schließlich zu schreien, denn sie
konnte natürlich nicht verstehen, warum sie plötzlich eingesperrt wurde und war
ganz verstört. Also wechselten sich die Sörensens ab: Einer blieb immer mit
Linda im Büro oder in der Wohnung, der andere im Geschäft.
Es war aber nicht mehr das alte, gute Leben. Linda, die sich
immer frei bewegt hatte und mustergültig über die Straßen ging - sie achtete
besser auf die Ampeln als viele Passanten - Linda musste an die Leine genommen
werden, weil die Leute sie und Herrn Sörensen beschimpften. "Lässt den
Kampfhund hier frei herumlaufen. Ist wohl noch nicht genug passiert." Das
und Ähnliches mussten sich die Sörensen nun täglich anhören und niemand wollte
glauben, dass Linda ein lieber, guter Hund war.
Sörensen Senior regte sich dermaßen auf, dass er krank
wurde. Sein Herz schlug nicht mehr so ganz, wie es sollte, und er blieb jetzt
häufiger zu Haus. Wenn er mit ihr spielte, merkte Linda, wie ihn das anstrengte
und nahm Rücksicht. Aber Rücksichtnahme ist keine gute Voraussetzung für
Spiele, die Hunde mögen. Und nach und nach wurden die Sörensens und Linda immer
trauriger. Es war einfach nicht mehr möglich, mit Linda unangefochten zu leben
und sie grübelten, wie sie etwas ändern könnten, es fiel keinem etwas
Vernünftiges ein: Das Geschäft brauchten sie, um leben zu können und zum Leben
gehörte Linda.
Eines Tages dann eines Tages ging Herr Sörensen Senior
nach Geschäftsschluss noch zum Tabakladen um die Ecke, um seinen Lottoschein ab
zu geben. Linda trottete an der Leine neben ihm her. Der Tabakfritze, der
Linda seit vielen Jahren kannte, machte eine der üblichen
Kampfhundebemerkungen, die witzig sein sollte. Sörensen war der Humor in dieser
Angelegenheit gründlich vergangen. Er machte eine scharfe Bemerkung und
verließ den Laden.
"Du bleibst mein lieber guter Hund", sagte er und
beugte sich zu Linda herunter. Dabei wurde ihm schwindelig. Er richtete sich
auf, in seinen Ohren rauschte es, vor den Augen tanzten schwarze Kreise, die
immer größer wurden. Und dann fiel Herr Sörensen mitten auf der Straße um,
murmelte noch so etwas, wie "Linda, bleib bei mir", dann lag er ganz
still da.
Linda erschrak fürchterlich. Sie fiepte, leckte Sörensen
Gesicht und Hände und setzte sich ganz dicht neben ihn. Jetzt, das fühlte sie,
jetzt wurde etwas von ihr gefordert, was noch nie verlangt wurde. Jetzt lag die
Entscheidung bei ihr. Ihr lieber guter Sörensen - denn das war es, was Linda im
Herzen empfand - hatte die Verantwortung für sich der Linda übertagen.
Als sich aus dem Kreis der Leute, der sich bei solchen
Ereignis unweigerlich bildet, zwei Männer lösten und Anstalten machten, Herrn
Sörensen anzufassen, zog Linda die Lefzen hoch und ein tiefes Grollen kam aus
ihr, dem sie selbst nachlauschte, so fremd erschien er ihr.
Die Leute wichen zurück, der Ruf nach der Polizei, der Wagen
mit Polizisten, der eifrige Zeuge und Helfer und Untertan, der immer da ist:
(Herr Wachtmeister, wir wollten ja erste Hilfe leisten, aber sie sehen ja
selbst, der Kampfhund lässt keinen ran!) Ratlosigkeit; die Stimme eines
Einzelnen, der etwas von einer Betäubungsspritze sagen will, geht unter in der
düsteren Wolke von Hass, die über den Menschen um Sörensen und Linda liegt: Da
kann man es sehen, mit eigenen Augen, hier ist doch der Beweis erbracht,
Kampfhunde sind unberechenbar, das Tier hat sich bloß verstellt - (all die
Jahre!) jetzt sieht man ja - weg mit dem Köter, worauf warten sie! Will die
Polizei verantworten, dass der Mann stirbt, weil der Hund keinen an ihn
ranlässt.
„Dieser Hund verhält sich mustergültig“, sagt einer, der
jetzt erst dazukommt, „er verteidigt seinen wehrlosen Freund Mensch, lassen sie
mich mal!“
Er geht ruhig auf Linda zu, das Gebrüll der Leute wird zu
einem hastigen Gezischel, der Mann redet leise zu Linda, beruhigend, Linda
schaut ihm stirnrunzelnd in die Augen.
„Zurück," schreit der Polizist, "sind Sie
wahnsinnig" und reißt den Mann an der Schulter beiseite. Und Linda kann
das nicht dulden. Nicht jetzt und nicht hier. Da wird Gewalt angetan einem, der
verlässlich erscheint, dem Einzigen. Linda setzt zum Sprung an, jetzt sieht sie
so aus, wie die Leute es schon immer gewusst haben. Jetzt wird sie kämpfen, und
aus dem gleichen Grund: Um ihren Menschen zu schützen.
Der Polizist nestelt seine Dienstwaffe los. Er ist Beamter
und beugt sich dem Beschluss der Mehrheit, die von ihm erwartet, dass er jetzt
ganz langsam die Hand mit der Pistole hebt.
"Was machen sie denn da, um Gottes Willen!"
Sörensen Junior bricht durch die Menschenmauer und Linda
springt ihm mit einem Schrei in Gesicht und küsst ihn und lacht und zieht ihn
am Ärmel zu Sörensen Senior; und springt aufgeregt an den beiden Männern hoch,
die endlich mit einer Trage zur Stelle sind.
„Ist ja gut, mein Kleiner" sagt der eine.
Er hat selbst einen Hund. Linda und der junge Sörensen
steigen mit in den Transporter, die Menschen gehen auseinander.
Es fehlt ihnen was an der Geschichte. Abends in den Kneipen
und Wohnzimmern wird jeder etwas anderes erzählen, und jeder wird als einziger
die Situation gerettet haben.
Sörensen Senior hatte nur einen Kreislaufkollaps, kam am
selben Abend noch nach Hause. Sörensens werden jetzt ihr Leben ändern, der
Senior muss es langsamer angehen lassen, hat der Arzt gesagt: Gute Luft, viel
spazieren gehen, möglichst wenig Ärger.
„Machen wir,“ sagt Sörensen Senior, „machen wir alles, wo
ein Wille ist - und so weiter - was meinst du, mein lieber guter Hund?“
Und fasst Linda mit beiden Händen um den Kopf und gibt ihr
einen Kuss mitten auf die schwarze Nase.
Die Geschichte ist wahr, weil sie so hätte ablaufen können.
Die Geschichte ist nicht wahr, weil der Polizist das ganze
Magazin seiner Pistole in Linda hineingeschossen hat.
Diese Geschichte möchte ich nicht erzählen.
(Gerd Hauke)
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